
Verantwortung und Schattenarbeit
Bin ich verantwortlich (zu machen) für die enttäuschten oder unerfüllten Wünsche und Erwartungen anderer Menschen an mich in unserer jeweiligen Begegnung? In den vergangenen Jahren bin ich des Öfteren, zumeist im Zusammenhang mit einer beendeten Beziehung, aber auch bei Begegnungen anderer Art, mit dieser Fragestellung konfrontiert worden. Und ausnahmslos jedes Mal lässt mich diese Fragestellung zeitgleich fassungslos und zutiefst verunsichert auf die Dunkelheit meiner tief verwurzelten, aus meiner Kindheit und Jugend herrührenden, massiven seelischen Verletzungen und Unsicherheiten blicken und sie erneut durchleben. Denn jede einzelne dieser beidseitig außerordentlich schnell als intensiv und tief empfundenen Begegnungen der letzten Jahre hat mich genauso schnell an meine Grenzen gebracht und mir jedes Mal aufs Neue vor Augen geführt, wie viel noch immer unkontrollierbare Angst vor seelischer Intimität und vor rasch als „Zuviel“, ja sogar als latent bedrohlich und mich innerlich einengend empfundener Zuwendung in mir schlummert.
Dieses Bedrohliche, mich massiv seelisch Überfordernde löst in mir regelmäßig einen starken, kaum zu kontrollierenden Fluchtreflex aus, der mich diese Begegnungen dann sehr plötzlich beenden lässt. Und synchron mit diesen für mich als nahezu als existentiell bedrohlich empfundene Ängsten und Unsicherheiten offenbart sich mir die schmerzliche Erkenntnis, dass es immer auch mein so Sein wie ich bin ist, welches bei fast jedem Gegenüber dieses ebenso überschnelle, nicht allmählich gereifte Empfinden von Tiefe, Nähe und Intensität entstehen lässt, und damit auch eine ebenso starke Verletzlichkeit, sowie große Erwartungen und Hoffnungen an unser Miteinander, die dann ebenso abrupt enttäuscht werden.
Ich selbst erlebe mich in diesen Zusammenhängen auf sehr schmerzliche und verwirrende Weise als ausgesprochen ambivalent und widersprüchlich. Denn obwohl mir meine diesbezügliche Verletzbarkeit und Unsicherheiten mittlerweile sehr bewusst sind, existieren parallel zu ihnen in meiner Seele eine ebenso große Sehnsucht und nachgerade schmerzliche Bedürftigkeit nach genau dieser großen Nähe, dieser Intimität und Zuwendung. Und es ist dieses starke Vermissen, das mich meist unbewusst dazu bringt, mich immer wieder auf derartige Begegnungen einzulassen und meine vorherigen, einschlägigen Erfahrungen dabei unbewusst auszublenden, sie zu verdrängen – verbunden mit der illusorischen Hoffnung, dass es dieses Mal bestimmt ganz anders sein werde. Handele ich damit also gegen besseres Wissen, und damit verantwortungslos?
Sehnsucht und Bedürftigkeit sind zwei sehr starke und tiefgehende Empfindungen, die für mich beide auf ein großes seelisches Mangelempfinden hindeuten. Zudem sind sie beide mit dem Empfinden großer Scham vor mir selbst und Anderen behaftet, weil ich von Früh an gelernt und verinnerlicht habe, sie als „Schwäche“, und damit als kaum verzeihlichen charakterlichen Mangel zu bewerten. Dies vor mir selbst oder anderen Menschen gegenüber einzugestehen, kostet mich noch immer sehr viel Überwindung, Vertrauensvorschuss, und vor allem Mut, eben weil ich selbst es als Schwäche und Makel empfinde, über deren Vorhandensein in mir ich nur allzu gerne den Mantel des Schweigens ausbreiten möchte.
Was hat dies alles mit Verantwortung zu tun? In den mich bis zum heutigen Tag prägenden Erfahrungen meiner Kindheit wurde mir eingeimpft, dass grundsätzlich allein ich für sämtliche Eskalationen, Missverständnisse und Missempfindungen im Miteinander verantwortlich bin, und dass mein Empfinden von Traurigkeit, Angst, Wut und Schmerz weder richtig, noch angemessen oder gar relevant ist. Diesen Glaubenssatz habe ich derart tief verinnerlicht, dass er bis heute in mir präsent und hochwirksam ist. Nur ganz allmählich und unter großen Mühen und Rückschlägen lerne und erfahre ich, dass ich zu allererst nur für mich, für meine Gefühle und mein Wohlergehen Verantwortung trage, und dass das Empfinden von Angst, Zweifel, Traurigkeit und Wut ebenso richtig und berechtigt ist wie das Erleben „schöner“ Gefühle. Dass dies ein äußerst langsamer, schwieriger und dorniger Weg ist: Das erlebe ich tagtäglich und gerade in derartigen Situationen. Verantwortung im Miteinander von zwei Menschen liegt niemals nur bei einem von Beiden. Und ein jeder Mensch ist auch in der Verbindung zuvorderst nur für sich verantwortlich.