Auf dem Weg zum „Ich“: Einsichten, Entscheidungen und Selbstermächtigung

Auf dem Weg zum „Ich“: Einsichten, Entscheidungen und Selbstermächtigung

21. März 2024 0 Von Eckhard Neuhoff

Seelische Narben und ihre Auswirkungen

Meine Seele ist von tiefen Narben bedeckt; von Narben, die mir nahestehende Menschen (Eltern, Mitschüler und Lehrer) mir einstmals als tiefe Wunden zugefügt haben, als ich noch ein Kind war und mich nicht zur Wehr setzen konnte. Diese Narben schmerzen mich bis heute -mal mehr und mal weniger intensiv. Und noch immer hindern sie mich daran, mich durchgängig so so zu sehen und zu fühlen, wie ich in meiner Gesamtheit tatsächlich bin und sein möchte. Denn zusammen mit diesen Wunden, wurden mir Eigenschaften und Glaubenssätze zugeschrieben und gründlich „eingeimpft“, die mich für mehrere Jahrzehnte sehr nachhaltig und hochwirksam glauben machten, ich sei ein schwacher und moralisch/ethisch fragwürdiger Mensch, den so zu lieben und zu akzeptieren eine (bisweilen allzu große) Herausforderung ist.

Diese Erfahrungen und Erlebnisse haben meine Selbstwahrnehmung und mein Selbstbild massiv und nachhaltig beeinflusst und mich auf diese Weise daran gehindert, mich frei zu entwickeln und ungehindert auf meine inneren Ressourcen zuzugreifen. Stattdessen war ich über Jahrzehnte, bildlich gesprochen, in einem inneren, ausgesprochen finsteren und engen Verlies, bestehend aus tiefer Scham, Traurigkeit, Angst und großer, auch gegen mich selbst gerichteter Aggression und Wut, gefangen.

Selbstermächtigung und Entscheidungen

Doch trotz all dieser seelischen Hemmnisse und der nach wie vor latent wirksamen negativen Zuschreibungen von außen, werde ich mir meiner Stärken und Begabungen allmählich immer mehr bewusst. Gleichzeitig lerne ich, meine Vergangenheit als unabänderlich zu akzeptieren, sie Schicht um Schicht loszulassen, um so endlich Frieden mit ihr und mir schließen zu können. Denn ich habe die Entscheidung getroffen, dass weder sie, noch meine zahlreichen biografischen Brüche, oder auch meine verschiedenen psychiatrischen Diagnosen, mich als Ganzes beschreiben und definieren. Sie alle sind lediglich ein Bruchteil dessen, was mich als „Ich bin“, als Individualität beschreibt und ausmacht. Nicht länger lasse ich zu, dass meine Vergangenheit und meine seelischen Narben mein jetziges, heutiges Leben vollständig bestimmen und mich daran hindern, ein selbst bestimmtes Leben, ganz nach meinen Vorlieben zu führen. Ich glaube, man nennt dies Selbstermächtigung.

Ganz in meinem individuellen Tempo und auf meine ureigene, selbst bestimmte Art und Weise, erobere ich mir Stück um Stück mein Leben zurück. Weder ich selbst, noch meine Art zu leben, muss anderen Menschen gefallen; noch müssen sie verstehen oder wissen, aus welchen Gründen ich so bin und genauso lebe, wie ich es tue. Denn es ist schließlich mein Leben! Es ist ausschließlich an mir zu verstehen und vor allem zu akzeptieren, dass ich wegen meiner Vergangenheit und meiner Narben, bestimmte Einschränkungen und Grenzen in mir habe, die es zu beachten gilt, und die andere Menschen nicht überschreiten dürfen. Denn diese Grenzen dienen meinem Wohlbefinden und meinem Schutz.

Mich selbst tatsächlich immer mehr und vollständiger zu akzeptieren und zu erlernen, für mein Wohlergehen zu sorgen und dafür einzutreten, ist ein allmählicher Prozess. Er beinhaltet, Schritt für Schritt herauszufinden, was genau in meinem Leben ich benötige, damit ich mich mit mir und anderen Menschen wohl- und vor allem sicher fühle und vollständig zur Ruhe kommen kann. Dazu gehört auch, meine Sehnsüchte und Bedürfnisse nicht nur wahrzunehmen und kennenzulernen, sondern auch dafür zu sorgen, dass ich sie selbst anerkenne, ernstnehme und sie mir erfülle, anstatt sie weiterhin zu ignorieren oder sie zu unterdrücken.

Auf dem Weg zu innerem Frieden

Für eine sehr lange Zeit waren die Begriffe „innerer Frieden“ und „zur Ruhe kommen“ für mich schier unerreichbare Sehnsuchtsorte -ein Abstraktum, das mit dauerhaftem Leben zu füllen, es wirklich zu fühlen, mir nicht möglich war. Stattdessen war ich (und bin es zum Teil noch immer) ein innerlich Getriebener und bisweilen rastlos nach Zufriedenheit, Sinn und Erfüllung Suchender. Denn über mehrere Jahrzehnte war ich nicht dazu imstande, mir eine wirkliche Vorstellung davon bilden, was genau ich eigentlich suche, und wie genau sich denn dieser innere Zustand der Zufriedenheit anfühlt und was ich benötige, um ihn zu erreichen.

Erst jetzt komme ich ganz allmählich dazu, zu erahnen und zu erfühlen, welche inneren wie äußeren Komponenten ich benötige, um dem nahe zu kommen. Für andere Menschen mag sich dies vielleicht ziemlich banal anhören. Für mich sind es jedoch die scheinbar „einfachen“ Veränderungen, wie eine mir gemäße Tagesstruktur, sowie menschliche (seelische und körperliche) Nähe, regelmäßiger Austausch mit anderen Menschen, und die Beschäftigung mit Dingen, die mir wirkliche Freude und Genuss bereiten.

Dass es so viel Zeit gebraucht hat um zu diesen Einsichten zu gelangen, erschreckt mich im Rückblick ein wenig und hinterlässt somit ein leises Gefühl von Traurigkeit in mir. Traurigkeit deswegen, weil es ein so steiniger Weg bis dorthin war und es so unendlich lange gedauert hat, mich selbst, meine Bedürfnisse und inneren Notwendigkeiten zu erkennen und an den Punkt zu gelangen, ihnen Schritt für Schritt auch tatsächlich Geltung verschaffen zu wollen. Andererseits ist es nie zu spät, um Veränderungen in Gang zu setzen, wenn man es wirklich möchte. Und ich bin jetzt soweit!