Vom Trauma zur Poesie: Die Wiederentdeckung der Sprache

Vom Trauma zur Poesie: Die Wiederentdeckung der Sprache

12. März 2024 2 Von Eckhard Neuhoff

Erste Schreibversuche

Meine ersten „Gehversuche“ beim Schreiben von Poesie reichen bis in die frühen Neunzigerjahre zurück. Damals verspürte ich das erste Mal den nicht zu überhörenden Impuls, meine Gedanken und Empfindungen niederzuschreiben.

Bis zum heutigen Tag kann ich mich an dieses unglaublich intensive Glücksgefühl erinnern, das mich damals beim Schreiben meines allerersten Gedichtes durchströmte. Erstmals bekam ich auf diese Weise einen ganz unmittelbaren Zugang zu meinem Innersten und entdeckte Worte in mir, mit denen sich meine bisher nur undeutlich wahrnehmbaren Gefühle verbinden konnten, und mit deren Hilfe ich das was mich im Innersten bewegt und berührt, nuanciert und detailreich zu beschreiben vermochte. Dieses innige Glücksgefühl ist mir bis heute erhalten geblieben, wenn in mir ein Gedicht entsteht und die Worte nur so aus mir herausfließen, um sich zu einem harmonischen und stimmigen Ganzen zu formen.

Schreiben als (m)ein Mittel der Kommunikation

Das was meine Seele bewegt und beschäftigt in der Form eines Gedichtes auszudrücken, fällt mir bis zum heutigen Tag wesentlich leichter, als es einem anderen Menschen im Gespräch mitzuteilen. Denn mich einem Gedankenaustausch mit einem Gegenüber derart ehrlich, tiefgründig und „nackt“ zu zeigen, so wie in meinen Gedichten, ist für mich noch immer mit großer Unsicherheit und Angst verknüpft. Traurigerweise gilt das selbst für Gespräche mit mir nahestehenden und lang vertrauten Menschen, die ich wirklich gut und lange kenne.

Bei genauerem Hinsehen ist es eine tief verwurzelte Angst vor erneuter Zurückweisung und Ablehnung, die von lang zurückliegenden, jedoch unvermindert präsenten Erfahrungen aus meiner Kindheit und Jugend herrührt. Denn allzu oft bin ich in meiner Vergangenheit – selbst noch als junger Erwachsener – für das was ich empfand, fühlte und dachte, von meinen Eltern und anderen Menschen ausgelacht, ignoriert und zurückgewiesen worden.

Die unmittelbare Folge dieser derart verletzenden Erfahrungen war, dass ich mich schon als Kind von der Außenwelt immer mehr zurückzog und mich kaum noch mitteilen mochte. Stattdessen verstummte ich und flüchtete mich immer häufiger in eine Fantasiewelt, in der ich der Starke und Unbesiegbare war. Diese allumfassende Verunsicherung und Hemmung manifestierte sich ungefähr ab meinem elften Lebensjahr in einer psychosomatischen Sprachstörung in Form einer linksseitigen Gesichtsmuskellähmung, die mir das freie und ungehemmte Sprechen nahezu unmöglich machte, und die in meinem täglichen (Er)Leben für noch mehr Spott und Ablehnung sorgte.

Auch wenn heutzutage von dieser mich über Jahrzehnte begleitenden Sprachstörung, dank meiner intensiven inneren Arbeit, kaum noch etwas übrig geblieben ist, und sie sich lediglich bei großer Müdigkeit und starker seelischer Erschöpfung oder innerer Aufgewühltheit überhaupt noch bemerkbar macht: Dieses lähmende Gefühl von Verunsicherung und die damit untrennbar verknüpfte, grundlegende Angst vor Ungeduld, Unverständnis und Spott meines Gegenübers sind mir -wenn auch in deutlich abgeschwächter Form- bis heute erhalten geblieben, sodass ich mich noch immer davor scheue, andere Menschen im unmittelbaren Gespräch wirklich in meine Seele schauen zu lassen.

Sprache als Instrument

Im Verlauf der letzten Jahre ist es mir – angesichts dieser für mich derart prägenden und traumatischen Vorgeschichte – jedoch immer wichtiger geworden, besonders im unmittelbaren Austausch so unmissverständlich und ehrlich wie möglich zu formulieren. Aus dieser für mich zentralen inneren Notwendigkeit heraus, ist aus meiner Arbeit mit Sprache mein individueller Weg der Achtsamkeit geworden. Und ich gelange für mich immer mehr zu der Erkenntnis, dass es womöglich diese erschütternden frühen Erfahrungen waren, die mir meinen bewussten Zu-und Umgang mit Sprache, meine tiefe Liebe und Verbundenheit mit ihr, überhaupt erst ermöglicht haben. Denn erst auf diesem Umweg ist die Sprache zu meinem Instrument geworden, zu meinem ganz individuellen künstlerischen Ausdrucksmittel.

Warum allerdings ausgerechnet die Poesie zu meinem bevorzugten Ausdrucksmittel geworden ist und sie mich auf solch einzigartige und umfassende Weise begeistert und derart tief im Innersten berührt und inspiriert, kann ich mir bis zum heutigen Tag nicht wirklich erklären. Allerdings ist mir im Laufe der Jahre immer deutlicher geworden, dass sie auf geheimnisvolle Weise zu dem Ausdrucksmittel für meine Seele geworden ist.

In der Poesie fühle ich mich geborgen, sicher und daheim. Sie verleiht meiner Seele Flügel, mit deren Hilfe ich mich über die mir eigenen Untiefen, Ängste und Unsicherheiten erheben kann, und selbst in den dunkelsten Stunden meines Lebens das Schöne, Wahre und Gute auffinde und erkenne, fühle und zum Ausdruck bringe.

Das Schreiben von Poesie bringt das Hoffnungsvolle, Heile und Unvergängliche in mir zum Vorschein – zusammen mit dem innigen Wunsch, es mit anderen Menschen zu teilen, um auf diese Weise in Verbindung zu treten: mit euch und mit der Welt.