Mit der seelischen Urwunde umgehen

Mit der seelischen Urwunde umgehen

2. Mai 2024 0 Von Eckhard Neuhoff

Du bist als Kind gebrochen worden!“ Diese erschütternde Aussage meines wesentlich älteren Bruders beschäftigt und begleitet mich nun schon seit annähernd zwei Jahren. Doch es will mir einfach nicht gelingen, dazu einen inneren, gefühlten Bezug herzustellen, so sehr ich mich darum auch bemühe.

Obwohl mein Verstand mir sagt, dass diese Aussage wahr ist und sie mich damals tief betroffen gemacht hat, ringe ich immer wieder mit mir darum, ihre tatsächliche Bedeutung für mich zu erschließen und vor allem auch wirklich zu fühlen. Denn was bedeutet es für mich „gebrochen“ worden zu sein? Immer dann, wenn mir diese Aussage in den Sinn kommt, verspüre ich eine starke innere Blockade, die mich daran hindert (oder vielleicht auch davor schützt?), ihre tatsächliche und vermutlich ungeheure Wucht samt ihres gesamten Ausmaßes tatsächlich zu erfassen.

Wenn ich mich in mir auf die Suche nach zentralen Schlüsselmomenten begebe, sind es lediglich bruchstückhafte und sehr weit entfernte Erinnerungsfetzen – ohne jede verbindende Emotion – die mir in den Sinn kommen: So erinnere ich mich daran, dass ich in Konflikten mit meiner Mutter meist starr vor Angst war, außerstande, mich zu erklären oder gar zu verteidigen, weil es mir buchstäblich die Sprache verschlagen hatte. Oder ich sehe Szenen vor mir, wo ich mit einem äußerst schmerzhaften Knoten in der Magengegend auf dem Heimweg von der Schule war, mir die Schritte zunehmend schwerer fielen, schon vorausahnend, dass es Zuhause wieder großen Ärger geben würde. So bruchstückhaft und verschwommen diese Erinnerungen auch sein mögen, erfüllen sie mich noch heute, nach gut 50 Jahren, mit Beklemmungen, Traurigkeit und großem Unbehagen.

Dass all diese Ereignisse sich dauerhaft in meiner Seele festgesetzt und massive Auswirkungen auf mich und meine weitere Entwicklung genommen haben, steht außer Frage. Denn meine gesamte Biografie ist bis zum heutigen Tag voller gefühlter Brüche und Scheitern auf vielen Ebenen. Gleiches gilt für meine von mir so empfundene und erlebte Ziel- und Wurzellosigkeit, für all meine Unsicherheiten, mein äußerst leicht zu erschütterndes Selbstbild, meine Depressionen, Bindungsstörungen und die zahlreichen, vergeblichen Versuche, im Leben „normal“ Fuß zu fassen. So gibt immer es wieder Tage, an denen ich mich innerlich noch immer wie erstarrt fühle, unfähig, Freude oder Trauer zu empfinden; geschweige denn überhaupt benennen zu können, was ich empfinde. Wenn ich versuche, diesen Symptomen nachzugehen, dann sehe ich noch immer den kleinen, vollkommen verängstigten, „zusammengestauchten“ Jungen vor mir, der ich einst war. Und es fühlt sich dann so an, als sei ein Teil von mir niemals erwachsen geworden, sondern im Damals stehen geblieben, vollkommen erstarrt vor Angst.

Auf einer rein abstrakten Ebene verstehe ich: All diese Symptome weisen auf ein schweres Trauma hin, das bis zum heutigen Tag zu großen Teilen unbewältigt und unverarbeitet ist. Und doch fühle ich heute keinerlei Wut mehr auf die Verursacher. Stattdessen gebe ich mir in meinen dunklen Stunden meistens selbst die alleinige Verantwortung, bzw. „Schuld“, für meine sämtlichen gefühlten und tatsächlichen Defizite.

Zu meinem eigenen Erstaunen stelle ich jedoch immer wieder fest, dass sich sowohl mit zunehmender Entfernung zu den damaligen Ereignissen, als auch durch meine kontinuierliche innere Arbeit, so etwas wie Gelassenheit und mir selbst immer mehr verzeihen können, sich allmählich in mir Raum nimmt, und sich vorsichtig zu einem zunehmend gefestigten „Es ist so, wie es ist“ entwickelt. Diese innere Haltung mildert meine inneren Kämpfe und den immer wieder aufflackernden seelischen Schmerz deutlich spürbar. Und es stärkt tatsächlich mein Vertrauen darauf, dass noch viel Gutes vor mir liegt.